Anti-Brake-Dive – übersehen oder unnötig?
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Mountainbike-Nerds jubeln und NPCs verdrehen die Augen. Anti-Brake-Dive – ist das nach Anti-Squat, Offset und Pedal-Kickback wieder eine Sau, die durchs Dorf getrieben wird? Es mag quieken, aber das Schweinerl ist definitiv nichts Neues – zumindest nicht an ummotorisierten Bikes und dann war da noch ein Experiment von Push …
Grundsätzlich geht es beim Anti-Brake-Dive darum, die Fahrwerksbalance zu erhalten und euch mehr Sicherheit auf dem Trail zu geben. Da Matthias Reichmann von EMRG ein Macher ist, hat er die Idee verfolgt und direkt an eine Intend verbaut. In diesem Artikel erfahrt ihr, worum es bei Anti-Brake-Dive geht und warum man dazu mehr forschen sollte.
Was ist Brake-Dive überhaupt?
Wenn bei einem Zweirad unter starker Verzögerung die Achslast nach vorn verlagert wird, kommt es typischerweise zu einer Einfederung der Federgabel (vgl. „Bremsnicken“, „Wegtauchen“ oder „Nosediving“) und damit zu einer Veränderung der Lenkkopfgeometrie (Vorlauf, Nachlauf, Radstand).
Dieses Phänomen nennt man „Brake-Dive“. Es kann zu unerwünschter Instabilität führen, da das Fahrwerk plötzlich steifer wirkt, die Front stärker belastet wird und sich das Einlenk- und Bremsverhalten unkontrolliert ändern kann.
In den 1980ern führten Motorradhersteller wie Yamaha, Kawasaki, Suzuki und Honda Anti-Dive-Systeme ein, meist in Form von Zusatzmechanik oder hydraulischer Steuerung. Heute sind diese klassischen Systeme weitgehend verschwunden, haben aber ihren Platz in modernen geometrischen und elektronisch geregelten Lösungen. Auch im PKW-Bereich gibt es Lösungen die es ermöglichen die Fahreigenschaften positiv zu beeinflussen und ungewollte Bewegung besser zu kontrollieren.
Wer in Sachen Technologie gerne in den Kaninchenbau abtaucht, sollte hierzu die Motorradhersteller abklappern:
| Hersteller | Jahr / Modell | Systembezeichnung | Details |
|---|---|---|---|
| Yamaha | ca. 1981 (XJ750A) | Anti-Nosedive Forks | Frühes hydraulisches Anti-Dive-System; Teil der Yamaha-Technologiechronik. |
| Kawasaki | Anfang – Mitte 1980er | AVDS (Automatic Variable Damping System) | Bei GPZ-Modellen eingesetzt; Bremsdruck verändert Gabeldämpfung. |
| Suzuki | Anfang 1980er | ANDF (Anti Nose Dive Forks), PDF | Hydraulisch geregelte Systeme zur Reduzierung des Einfederwegs beim Bremsen. |
| Honda | Frühe – mittlere 1980er | TRAC (Torque Reactive Anti-Dive Control) | Mechanisch-hydraulische Lösung; Bremszange aktiviert Ventil zur Dämpfungsänderung. |
| Aprilia | ca. 2020 (Patent) | — | Patentierte Anti-Dive-Gabel mit aktiver Regelung; moderne elektronische Umsetzung. |
| Ducati | ab ca. 2018 (Multistrada V4, Panigale V4) | DSS EVO (Ducati Skyhook Suspension EVO) | Elektronisch geregeltes semi-aktives Fahrwerk; Sensorik verhindert Dive und Squat durch Echtzeit-Dämpfungsanpassung. |
| Öhlins | ab ca. 2013 (TTX EC / Mechatronic) | TTX EC Mechatronics | Elektronisch geregelte Dämpfung; Sensorbasierte Anpassung der Zug- und Druckstufe, um Dive beim Bremsen zu kompensieren. |
| Bilstein | ab ca. 2009 (Serienstart in PKW, Motorsport-Adaptation später) | DampMatic | Mechanisch-hydraulisches System mit Ventilsteuerung über Kolbenposition; reduziert Dive bei Bremsvorgängen automatisch ohne externe Sensorik. |
| Fox | ab ca. 2018 (Motorsport-Version) | Live Valve | Elektronisch geregelte Dämpfer mit Echtzeitsteuerung über ECU; reduziert Dive und Pitch durch sofortige Dämpfungsanpassung nach Sensorinput. |
Technische Beschreibung der Funktionsweise
Anti-Dive-Systeme haben die Aufgabe, beim Betätigen der Vorderradbremse das Einfedern der Federgabel – also den Dive – zu begrenzen. Jeder kennt das Phänomen: Man möchte stark bremsen und dabei zieht es einen nach vorn über den Lenker. Wir kontern diesen Vorgang, indem wir uns gegen den Lenker stemmen.
Es liegt das sogenannte erste Newtonsche Gesetz zugrunde, auch bekannt als das Trägheitsgesetz.
Zur Erinnerung: Ein Körper behält seinen aktuellen Bewegungszustand (in Ruhe oder in Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit) bei, solange keine externe Kraft auf ihn wirkt oder die Summe der Kräfte null ist.
Wie kann man brake-dive vermeiden?
Hydraulische Lösung
An Mountainbikes versucht man das primär mit der Luftkennlinie und der Lowspeed-Dämpfung in den Griff zu bekommen. Greift man hier in die Dämpfung ein, kreiert man allerdings Kompromisse. Man versucht mit den sogenannten Schaftgeschwindigkeiten, bestimmte Kräfte isoliert zu behandeln, aber auf dem Trail ist die Zuordnung nicht immer eindeutig möglich. Die Federgabel kann nicht direkt unterscheiden, ob eine Kraft (Schlag/Einfedern) nun vom Bremsen kommt oder von der Landung nach einem Sprung, oder von einem Schlag einer Wurzel.
Bei Formula kann man zwischen verschiedenen CTS mit unterschiedlichen Kennlinien wählen. Je nach CTS spürt man hier deutliche Unterschiede, wenn man hart in die Vorderradbremse greift.
Mechanische Lösung
Mountainbikes und deren Entwickler finden immer wieder Inspiration in Motorrädern. Hier gibt es schon aus den 80er Jahren „Anti-Nosedive-Forks“, die über spezielle Designs dem Phänomen entgegenwirken. Vergleichbar ist das auch mit dem etablierten Anti-Squat, bei dem der Kettenzug eine Gegenkraft gegen das Wippen im Hinterbau ist, welches beim Treten in die Pedale entsteht. (Podcast mit Dave Weagle)
Montiert man also eine Bremszange drehbar, kann man über eine Hebelmechanik die Kraftvektoren positiv beeinflussen oder gar ein Ventil in der Gabel aktivieren, welches dann die Gabel härter stellt. Letzteres nannte Honda TRAC (Torque-Reactive-Antidive-Control).
Ein Auszug aus einem alten Honda-Handbuch.
BMW nannte ihr kinematikbasiertes System Telelever/Duolever. Hierbei wird über einen Wishbone gearbeitet und nicht, wie es aktuell etabliert ist, an einem MTB – einer Teleskopgabel. Diese Architektur reduziert das Einfedern unter einwirkenden Bremskräften.
Links sieht man das BMW Telelever- und rechts das Duolever-System.
Elektronische Lösung
Im Motorradbereich gibt es etliche Lösungen mit Sensoren. Man erkennt, welche Fahrsituationen vorliegen. Bremsen, Beschleunigen oder die Kurvenlage. Klingt weit weg vom Mountainbike? Weit gefehlt. Denkt an Fox Live Valve Neo, RockShox Flight Attendant oder das ABS von BOSCH.
Herausfordernd ist hierbei die Stromversorgung, denn diese Systeme brauchen teilweise ordentlich Saft. Gleichzeitig will man auch nicht zusätzliches Gewicht am Bike haben oder noch mehr Kabel verlegen müssen.
Fox Live Valve Neo mit Akku am Dämpfer und zwei Sensoren mit Knopfzellen, die an der Bremsaufnahme befestigt werden.
Das RockShox-Gesamtsystem. Für das elektronische Fahrwerk sind die Federgabel mit Akku, der Dämpfer mit Akku und der Pedaliersensor mit Batterie zwingend erforderlich.
Boschs ABS-Kontrolleinheit sitzt zwischen Bremshebel und Bremssattel. Es soll das Bremsen sicherer machen und verhindern, dass das Vorderrad blockiert und wegrutscht.
Alles ist ein Kompromiss
Vorteil eines Systems zur Vermeidung von Brake-Dive
Weniger Brake-Dive, bedeutet eine geringere Änderung des Lenkwinkels während des Bremsvorgangs. Dadurch erhält man eine stabilere Front, konstantere Geometrie und die Federgabel bleibt aktiver, da sie nicht in den Federweg gezogen wird.
Mögliche Nachteile
Je nachdem, ob man eine mechanische oder hydraulische Lösung verfolgt, geht man Kompromisse ein.
Sensibilität bei erhöhter Dämpfung: Oben bereits erwähnt, kann eine Gabel nicht klar unterscheiden, ob man gerade bremst oder ob eine andere Kraft von einer Landung wirkt. Dementsprechend kann sie nicht mehr alle Bodenunebenheiten ideal aufnehmen. Bodenkontakt ist demnach nicht immer gewährleistet, Komfort leidet und die Rückmeldung an die Hände kann zu harsch werden.
Hebelbasierte Lösungen polarisieren in erster Linie. Auch bei der Trust-Federgabel von Dave Weagle war das schon so. Vom Look abgesehen hat man es auch mit mehr Bauteilen zu tun. Diese benötigen Wartung und sind natürlich auch immer ein potenzieller Punkt, an dem etwas den Geist aufgeben kann.
Trust Shout – Außerordentlich und speziell. Der Look war und ist sicher nicht jedermanns Sache. Das Patent wurde übrigens von Specialized gekauft.
Auch PUSH INDUSTRIES hat vor ein paar Jahren experimentiert. Allerdings wurde das Thema nicht weiter verfolgt.
Die Idee von Matthias Reichmann
“Um dem Moment, das durch die dynamische Radlastverschiebung beim Bremsen auftritt, entgegenzuwirken, scheint es zweckmäßig die Kraft des Bremssattels zu verwenden und hiermit ein gegenläufiges Moment zu erzeugen, welches als Kraft an den Standrohren der Federgabel eingeleitet wird. Hierdurch taucht die Gabel weniger ein, nämlich fast gar nicht.
Ein Anti-Dive von über 100 % wäre allerdings gefährlich, weil die Gabel dann beim Bremsen anfangen würde, auszufedern. Daher sind wir knapp unter 100 % geblieben. Dadurch kann die Gabel beim Bremsen immer noch aktiv bleiben und einfedern.
Man hat somit immer noch den kompletten Federweg zur Verfügung. Die Abstützung passiert genau dann, wenn man sie braucht, nämlich bei Verzögerung, ansonsten arbeitet die Gabel ebenfalls regulär. Sprich: Meine Geometrie wird nicht negativ beeinflusst. Meine Gabel taucht nicht weg.
Es gibt auch Beispiele aus dem PKW-Bereich. Ich hatte mal einen Audi A6 von 2004. Der hat eine Fünflenker-Vorderachse. Da konnte man voll in die Eisen gehen und der ist vorne quasi nicht abgetaucht. Man hatte ein sehr komfortables Fahrwerk, das sich trotzdem dynamisch fuhr, weil es kinematisch gut ausgelegt war. Und das ist der Hintergrund, der hier auch am Mountainbike umgesetzt werden soll.
Im Gegensatz zum PKW ist die Auslegung beim Mountainbike schwieriger, da das Nickmoment durch die dynamische Radlastverschiebung von der Höhe des Schwerpunkts abhängig ist. Am Mountainbike ist dieser Schwerpunkt dynamischer als am Auto. Die Körpergröße des Fahrers sowie die Fahrposition, die man statisch nicht berechnen kann und bei jedem anders ist, spielen hier eine Rolle.
Einen weiteren Einfluss hat der Radstand. Allerdings ist der bei den meisten Mountainbikes mehr oder weniger konstant, aber unter Abschätzung der Schwerpunkthöhe funktioniert das System, wie wir es jetzt umgesetzt haben, eigentlich genau so, wie es soll. Wenn ich mit meinen 1,81 m, 79 kg und normaler Fahrposition extrem hart nur die Vorderradbremse nutze, federt die Gabel wenige Millimeter bis vielleicht 1 cm ein – das heißt, wir sind unter 100 % Anti-Dive und in einem Bereich, dass wir trotzdem noch fast den vollen Federweg nutzen.
Das ist momentan noch ein Prototyp und das System muss noch leichter werden. Aktuell erforschen wir nur die Kinematik.
Man muss überlegen, dass es auch am PKW ganz normal ist, dass du ein Anti-Dive-System an der Vorderachse hast. Allerdings eher im gehobenen Segment.”
– Matthias Reichmann | EMRG
Matthias’ Prototyp-System mit knapp unter 100 % Anti-Dive. Verbaut an seiner serienmäßigen Intend-Federgabel.
Fazit
Neues setzt sich nur gegen Widerstände durch. In Kommentarspalten der Foren scheint dies das erste Gesetz zu sein. Heute gibt es allerdings kaum noch ein Bike, das ohne Berücksichtigung des Anti-Squats entwickelt wurde. Das Bremsnicken an der Front loszuwerden, ist die logische Schlussfolgerung. Ob sich der Look in unserer Branche durchsetzen wird, wo Fashion oft Funktion ersetzt, wird sich zeigen.
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Autor – Jens Staudt
Größe: 191 cm
Gewicht: 95 kg
Fahrstil: Mit seinem Race-Hintergrund sind die Linien geplant, auch wenn es mal rumpelt. Wenn möglich, werden Passagen übersprungen. Die ganze Breite eines Trails sollte man nutzen. Andere würden sagen – kompromisslos.
Motivation: Ein Produkt sollte sorgenfrei und möglichst lange funktionieren. Wenn man weniger schrauben muss, kann man mehr fahren. Er bastelt gerne und schaut, wie das Bike noch optimiert werden kann.

